Eine Woche vor seinem Tod hatte ich noch mit ihm telefoniert. „Es geht mir schlecht“, sagte er, und das war ungewöhnlich für ihn. Schon länger konnte man bemerken, dass seine Kräfte nachließen, aber so hatte er nie gesprochen. Seine Sprache war undeutlich und schleppend, die Gedanken hingegen völlig klar. Auch jetzt war er der Gentleman, der sich nicht gehen ließ, in der Haltung der Preuße, der er immer war, aber es fehlte ihm erkennbar jeglicher Antrieb. Allein die Aussicht auf die große Orchesteraufführung von „Der Schatz im Silbersee“ unter dem Dirigenten Ludwig Wicki am Ostermontag im Münchner Gasteig hellte sein Gemüt etwas auf. Von dem großartigen Erfolg dieses letzten einer ganzen Reihe von Konzerten sollte er nichts mehr erfahren – er starb zwei Tage zuvor, am Sonnabend, dem 20. April 2019, im Alter von 91 Jahren in seinem Haus im schleswig-holsteinischen Westerrönfeld bei Rendsburg. Ein „gesegnetes Alter“, las ich in einer Beileidsbekundung. Ja, so ist es. Und doch zu früh. Und doch ein unersetzlicher Verlust.
Dass Martin Böttcher einmal der „Karl-May-Musiker“ schlechthin werden würde, war ihm nicht vorherbestimmt. Prädestiniert dafür war er ohnehin nicht: Er hatte, wie er immer wieder etwas betreten gestand (aufrichtig und nicht gespielt!), nie im Leben ein Karl-May-Buch gelesen. Er gehörte schlicht zu jenen Menschen, die zu Karl May nie Zugang gefunden hatten. Das mag verwundern, denn in seiner Alterskohorte war Karl May als Jugendlektüre geradezu omnipräsent. Andererseits raubte die Kriegszeit ihm, dem 1927 Geborenen, gerade die für die „Karl-May-Infektion“ entscheidenden Entwicklungsjahre. Nachholen konnte er das nicht mehr, mochte ihm der Karl-May-Verlag auch noch so oft einen weiteren Band der „Gesammelten Werke“ zueignen. Es gehört zu den unerklärlichen Mirakeln der Karl-May-Geschichte, dass gerade er mit seinen Melodien die „Karl-May-Stimmung“ der jugendlichen (und auch älteren) Leser auf so kongeniale Weise einfangen konnte. Karl May vermochte es, mit seinen Erzählungen große und bewegende Gefühlswelten zu schaffen. Auf musikalischem Gebiet fehlte ihm, der auch darin keineswegs unbegabt war, dieses Genie. Martin Böttcher hatte es: Ein geradezu unbeschreibliches „Karl-May-Feeling“, das auf einer anderen sinnlichen Wahrnehmungsstufe exakt jene Gefühle ausdrückt, die den Leser des Buches oder den Betrachter des Filmes ergreifen.
Geboren wurde Martin Hermann Böttcher am 17.06.1927 in Berlin. Der Vater war Beamter, der Urgroßvater Weimarer Hofkapellmeister. Im bürgerlichen Schmargendorf geht er zur Schule. Der Junge erhält Klavierunterricht, aber weit mehr als die Musik interessiert ihn die Fliegerei. Er möchte Pilot bei der Luftwaffe werden, der Treibstoffmangel in den letzten Kriegsmonaten hält ihn glücklicherweise am Boden. In der Kriegsgefangenschaft bringt er sich selbst aus Langeweile das Gitarrespielen bei. Durch Zufall kommt er zum Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg, wo er im Tanz- und Unterhaltungsorchester unter Willy Steiner Anstellung findet. Seine Liebe gehört dem Jazz. Zu seinen frühen Kollegen zählen Horst Fischer, Hans „James“ Last und Ernst Mosch (der erst später zum Volksmusiker mutierte). 1954 verlässt er den Sender, bleibt Neu-Hamburger und wird freischaffender Arrangeur und Komponist. 1955 schreibt er für den Berliner Produzenten Artur Brauner seine erste Filmmusik: „Der Hauptmann und sein Held“. Von da an nimmt seine Karriere einen atemberaubenden Verlauf, seine Arbeiten spiegeln die deutsche Filmgeschichte der 1950er bis 1970er Jahre: „Die Halbstarken“, „Endstation Liebe“, „Am Tag als der Regen kam“, „Das schwarze Schaf“, „Unser Haus in Kamerun“, „Klassenkeile“, „Willi wird das Kind schon schaukeln“ sind einige seiner erfolgreichen Filmtitel. Höhepunkt seines Schaffens sind die „Scores“ für zahlreiche Edgar-Wallace-Streifen und vor allem für die Karl-May-Verfilmungen zwischen 1962 und 1968. In den 1970er Jahren, mit dem Niedergang des deutschen Kinos, verlagert sich sein Tätigkeitsfeld zum Fernsehen. Böttcher kreiert die Musiken zu Reihen wie „Ida Rogalski“, „Sonderdezernat K“, „Es muss nicht immer Kaviar sein“, „Derrick“, „Der Alte“, „Forsthaus Falkenau“, „Pfarrer Braun“ – und immer wieder für Karl May: „Kara Ben Nemsi Effendi“, „Winnetous Rückkehr“ und „Winnetou – Der Mythos lebt“. Daneben arbeitet er mit Künstlern wie Romy Schneider, Hans Albers, Hildegard Knef, Francoise Hardy, Peggy March und Pierre Brice und produziert zahlreiche Schallplattenveröffentlichungen. In der GEMA setzt er sich in führender Position für die Belange der Musiker ein.
Eine glänzende Karriere. Mit seiner Frau, der ehemaligen Schauspielerin Anneliese Kaplan, führt er eine glückliche Ehe. Leben in der Schweiz, ein wunderschönes Ferienhaus auf Sardinien. Der Surfsport bietet ihm jenes Gefühl von Freiheit, das er sich durchs Fliegen nicht erfüllen konnte. Im Alter zahlreiche Auszeichnungen, vom „Scharlih“ bis zum Bundesverdienstkreuz und Ehrenpreis der GEMA für sein Lebenswerk. Es scheint, als sei er vom Glück verwöhnt. Doch so war es nicht. Bereits 1965, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, wirft ihn eine massive Herzerkrankung fast aus der Bahn. Krankheit ist ein ständiger Begleiter der Familie. Sein Schwiegersohn, der Ehemann der Tochter Betsy, stirbt früh. Die Tragödie seines Lebens ist der Tod der Tochter Rebecca, die als Modedesignerin arbeitete und 1991 an einer heimtückischen Krankheit stirbt. In der Öffentlichkeit spricht er nie darüber, er verschließt das Ereignis tief in seinem Herzen. Er bleibt Preuße: bewahrt nach außen hin Haltung, trägt sein Schicksal, nicht mit Gelassenheit, aber mit Würde, ist den Menschen zugewandt, begegnet jedermann mit Respekt, Achtung und Freundlichkeit. Er glaubt an das Gute, weiß aber auch um das Schlechte. „Man hat auch schon Pferde kotzen sehen“, äußert er einmal in meiner Gegenwart, als er sich über etwas ärgert, aber das ist auch schon das Höchste an Gefühlsausbruch, was er sich erlaubt. Keinen Brief, keinen Anruf, lässt er unbeantwortet, vielen wird er zum treuen Freund. Ingelore Bernasconi, die seit 1966 an seinem Schweizer Wohnsitz in Lugano für ihn tätig ist, bleibt auch nach seinem Umzug nach Deutschland seine Sekretärin. Ich kenne niemanden, der nicht gut von Martin Böttcher spricht.
Was war das Geheimnis seines Erfolges? – Ich vermute, Martin Böttcher selbst wäre es schwer gefallen, das zu erklären. Er war ohnehin nicht jemand, der große Worte macht.
In der für ihn typischen Bescheidenheit hätte er sich eher als „Handwerker“ bezeichnet. Die Idee zu seiner stilbildenden „Old-Shatterhand-Melodie“ (ursprünglich hieß das Hauptthema so wie der Film: „Der Schatz im Silbersee“) kam ihm nach eigener Darstellung spontan nach der Vorführung der Arbeitskopie, „aus dem Bauch heraus“. Aber normalerweise hätte er, so erzählte er mir einmal, viel am Klavier ausprobiert und „gebastelt“. Seine Karl-May-Melodien erklärte er ganz schlicht: „Die Mundharmonika geht voran, und die Streicher marschieren hinterher.“
Das Geheimnis seiner Erfolges – sicher ist es nicht der vielzitierte „Martin-Böttcher-Sound“. Was sollte das auch schon erklären? Henry Mancini, Bert Kaempfert, John Williams – sie alle haben ihren eigenen, unverwechselbaren Klang. Bach und Mozart auch. Es muss etwas anderes sein. Ich würde es so beschreiben: Martin Böttchers großartige Karl-May-Melodien rühren den Zuhörer ans Herz – und: sie ERHEBEN ihn aus der Alltäglichkeit. Seine „Old-Shatterhand-Melodie“ setzt den Zuhörer auf unsichtbare Schwingen und trägt ihn empor – in eine bessere Welt, wo die Gefühle veredelt werden. Sie trägt ihn durch den himmlischen Äther, jene unwandelbare und zeitlose Dimension, von der die griechische Philosophie spricht, bis er, mit den verebbenden Streicherklängen, langsam wieder auf die Erde herabgleitet – als ein geläuterter Mensch. Sagen wir: als ein Mensch, der ein bisschen besser sein möchte als zuvor, weil er das Bessere erahnt, ja geradezu gespürt hat.
Auch Johann Sebastian Bach und viele andere Komponisten können diese Wirkung haben. Aber Martin Böttcher hat sie in der „Old-Shatterhand-Melodie“ ganz unmittelbar und elementar, sozusagen ohne Zugangsvoraussetzungen, auch für den jugendlichen Zuhörer erlebbar. Wir werden durch diese Musik ERHOBEN. Wir spüren es, und wir erleben es mit einer inneren Freude.
Dafür, lieber Martin Böttcher, haben wir Ihnen Dank zu sagen. Der Dank Ihrer Freunde wird Sie – in unserem Leben – lebenslang begleiten, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. So, wie uns Ihre Musik ein Leben lang begleitet hat. Karl May und Sie, der Karl-May-Nichtleser, werden sich gut verstehen, dort oben, in den Ewigen Jagdgründen, und sie werden zueinander sagen: „Mein Bruder!“
Michael Petzel